Ein Bieberer Leben

Zum Tode von Herrn Dr. Alfred Kurt

    

Eine Lebenswürdigung von Dr. Otto Schlander

Am 4. Mai 2014 verstarb nach langer Krankheit, aber dennoch unerwartet, Dr. Alfred Kurt. Er war ein „Urbieberer“, einer der in Bieber geboren wurde, dort die gesamte Zeit seines Lebens verbrachte und wo auf den Feldern in der Bieberer Gemarkung, die er so gut kannte, die Zeit des Abschieds für ihn gekommen war. Obwohl er in Bieber seine Wurzeln hatte, die er nie verleugnete, die er im Gegenteil in den Fokus seiner Betrachtungen rückte, war er nicht in geistiger Enge an seinen Heimatort gebunden. Stets hatte er auch die umliegenden Städte und Gemeinden im Blick Seine Studien erstreckten sich auf den gesamten südhessischen Raum, in dem er sich zu Hause fühlte. Hier wirkte er als Chronist, als Verfasser von zahlreichen Beiträgen zur Historie des Rhein-Main-Gebietes, als Referent bei Treffen, in denen das Heimatkundliche im Vordergrund stand und nicht zuletzt als versierter Schulmann, der Generationen von Schülern und Schülerinnen auf ihrem Weg zum Abitur betreute und führte.

 

Geboren wurde Dr. Alfred Kurt am 15. April des Jahres 1928 in der damals noch selbständigen Gemeinde Bieber. Für ihn war es später von Bedeutung, dass an diesem Tag der Weiße Sonntag gefeiert wurde. Stark prägend war für ihn das Elternhaus, in dem ihm grundlegende Haltungen und Einstellungen für seinen Lebensweg mitgegeben wurden. In den 20er und 30er Jahren kam in Bieber kaum jemand an der Herstellung von Lederwaren vorbei. Keinem blieben die Besonderheiten der Branche mit ihren Eigenheiten, ihrer Härte und auch mit ihren Verdienstmöglich-keiten verschlossen. Alfreds Vater war gelernter Sattler, der mit großer Sach- und Fachkenntnis sein Handwerk ausübte. Zusammen mit seinem Schwager war er Inhaber eines Kleinbetriebes. Seine Mutter war Köderin, die in nie erlahmendem Eifer in Hausarbeit die größeren Teile einer Damentasche mit einer besonderen Nähtechnik miteinander verband. Obwohl der Vater die Nachteile des Gewerbezweiges erfahren musste, wurde dem Sohn die Notwendigkeit sauberer handwerklicher Grundlagen und des Fleißes von beiden Eltern demonstriert. Ein weiteres Vorbild mochte dem Alfred der etwa sieben Jahre ältere Bruder Friedrich sein. Wie in Bieber bis etwa 1960/70 üblich bearbeiteten die Eltern einen Garten und ein größeres Flurstück in der Bieberer Gemarkung. Zu den anfallenden Arbeiten wurden die Söhne je nach Leistungsfähigkeit herangezogen. So gehörte der Umgang mit einfachen landwirtschaftlichen Geräten zu der Grundaus-stattung der in Bieber Heranwachsenden. Beide Eltern standen fest auf dem Boden der katholischen Kirche. Die Pfarrer und die Kapläne genossen ein hohes Ansehen, ihr Wort hatte in der Familie Kurt Gewicht. Diesem Erbe ist der Sohn Alfred ein ganzes Leben lang treu geblieben. Seine späteren historischen Forschungen kreisten wiederholt um die Ausprägungen, welche der katholische Glaube in Bieber gefunden hatte.

 

Das Elternhaus befand sich im ältesten Teil der noch längst überschaubaren Gemeinde Bieber in der Hintergasse, die nach der Eingemeindung Biebers nach Offenbach in Alt-Bieber umbenannt wurde. Wie der Verstorbene selbst mitteilte, war hier der Lebensrhythmus der Bieberer noch sehr deutlich vernehmbar. Auf der engen Straße, in der man keinen Bürgersteig kannte, bewegten sich in der Frühe die Menschen hin zu der unweit gelegenen katholischen Kirche. Am Hause vorbei zogen die Kinder hin zur Volksschule, bisweilen auch im Sturmschritt, wenn die Schulglocke den baldigen Beginn des Unterrichts ankündigte. Durch die enge Gasse mit ihrem ungleichmäßigen Pflaster rumpelten die Bauernwagen aus den wie selbstverständlich betriebenen benachbarten Bauernhöfen. Vernehmbar war fast während des gesamten Tages das Getrappel von Handlangern oder von Lehrlingen, die zu bearbeitende Lederstücke zu den Stepperinnen, den Griffflechtern oder den Köderinnen brachten. Die leicht gebogene Gasse war ein Kosmos eigener Art, der dem Heranwachsenden einen lebhaften Eindruck von der Bieberer Geschäftigkeit vermitteln konnte.

 

Im Elternhaus herrschte zweifelsfrei die Bereitschaft zur Betriebsamkeit als Grundlage der wirtschaftlichen Basis, die durch Genügsamkeit und Verlass auf eigene Mittel gekennzeichnet war. Daneben wuchs Alfred in einer Familie auf, die sich keineswegs nach außen abkapselte. Eltern und Söhne waren stets offen für Neuigkeiten aus der engeren und weiteren Umgebung. Was damals nicht alltäglich war, die Familie hatte ein Abonnement für die Offenbacher Zeitung. Nach dem ehemaligen Erscheinungs-modus kamen die Ausgaben des Blattes in den frühen Abend-stunden in die Häuser. Kaum hatte der Zeitungsträger das jeweilige Exemplar hinter das Tor gesteckt, begann die Lektüre und anschließend die Diskussion über die Meldungen, Damit auch jeder in den Genuss eines Teiles der Zeitung kam, wurde die Ausgabe in ihre Bestandteile aufgeteilt, die gelesen und ausgetauscht wurden. Sobald Alfred des Lesens mächtig war, beteiligte er sich zusammen mit seinem Bruder an der Lektüre und den sich anschließenden Aussprachen. Ein beliebter Ort für das Studium der Zeitung war besonders in der Sommerzeit das im Hof stehende Gartenhäuschen. Bei diesen Aussprachen musste nicht unbedingt die Politik mit all ihren Nuancen im Vordergrund stehen, ein echtes Bieberer Thema waren immer wieder die Berichte über die Fußballer der Germania, zu deren begeisterter Anhängerschaft vor allem der Vater zählte. In diesem Familienkreis griff man wie selbstverständlich auch zurück auf die Ereignisse aus der Bieberer Vergangenheit. In den 30er Jahren reichte die Erinnerung noch weit zurück in das 19. Jahrhundert. Ein Großonkel, der das Geschehen noch miterlebt hatte, konnte von dem Einmarsch der Preußen in Bieber im deutschen Bruderkrieg 1866 berichten. Ein anderer Großonkel hatte in den Jahren vor 1914 und in den bitteren Tagen des Ersten Weltkrieges das Amt des Bürgermeisters in Bieber bekleidet. Bei dem raschen Wechsel der Bürgermeister nach 1930 boten sich Vergleiche mit den Amtsinhabern stets und ständig an. Unmerklich öffneten sich für Alfred im frühen Alter die Ausblicke auf die Bieberer Vergangenheit.

 

Bei dem mehr zufälligen und informellen Bekanntwerden mit dem Bieber in früheren Tagen konnte es allerdings nicht bleiben. Wie von den Gesetzen vorgeschrieben, besuchte Alfred seit Ostern 1934 die Volksschule der Gemeinde Bieber in der heutigen Mauerfeldstraße. Bereits nach einem dreijährigen Besuch hielt man ihn bereit und reif genug für das Überwechseln in die Höhere Schule. Seit Ostern 1937 war er Schüler der Offenbacher Oberrealschule am Friedrichsplatz, die in den Hitler-Jahren den Namen Horst-Wessel.Oberschule trug. Damit war erstmals ein Schritt über Bieber hinaus getan. Etwa ein Jahr später, am 1. April 1938, wurde Bieber nach Offenbach eingemeindet. Fortan wuchs er in einer größeren politischen Einheit auf. Allerdings sollte der von den damaligen Herren angeordnete und vollzogene Verwaltungsakt tiefe Spuren, ja sogar Narben hinterlassen. Sein gesamtes Leben hindurch hat sich Alfred Kurt mit dem Verlust der Bieberer Eigenständigkeit beschäftigt. In seinen Augen war es zweifelsfrei ein Akt der NS-Willkür, der gegenüber er eine äußerst kritische Haltung einnahm und der, wenn es irgend möglich wäre, rückgängig gemacht werden sollte. Mochte sich auch die formale Position Biebers in nachhaltiger Weise verändert haben, dass es als politische Größe ausgeschaltet worden war, so blieb Bieber doch Ausgangspunkt und Bezugspunkt seines Denkens und Handelns. Bei dieser nicht zu erschütternden Verankerung in der Bieberer Lebenswelt dürfte das Elternhaus stark bestimmend gewesen sein, zwar ohne große Worte, aber durch die Einbindung in Verwandtschaft, Nachbarschaft , Bekanntschaft und die vielen formlosen Beziehungen in einer überkommenen Gemeinschaft, in der noch fast jeder jeden kannte und auch wusste, was er von ihm zu halten hatte. Mochte auch der unmittelbare Verwaltung-sakt die Lebensumstände der Bieberer nur wenig zu verändern, so war doch deutlich genug, dass er vollzogen war und auch Konsequenzen zeitigte.. Als äußeres Symbol für den Umbruch riss man alsbald das Rathaus weg. Es war sicherlich kein Prachtbau und kein Schmuckstück, wahrscheinlich altersschwach. Aber durch das übereilte Entfernen des Gebäudes wurde es nachträglich zu einem Sinnbild der Bieberer Eigenständigkeit, das von anderen, von den Offenbacher Nationalsozialisten, entfernt worden war. Der Stachel saß tief.

 

Für die Familie Kurt trat eine weitere Veränderung ein, als Alfreds Eltern einen Neubau in Bieber im Frankfurter Grund errichten ließen, der das alte Domizil in der Hintergasse deutlich zurück-treten ließ. Durch den recht großzügigen Garten, der in jenen Jahren noch dem Anbau von Obst und Gemüse diente, hatte der Vater einen unmittelbaren Zugang zu der Firma Bosche und Kurt, deren Teilhaber er , wie es schon der Name ausdrückt, war. Deren Spezialität war die Fabrikation recht voluminöser Einkaufs-taschen für die Welt der Damen. Den älteren Sohn Friedrich ließ man eine Banklehre im Hause Hengst in Offenbach absolvieren, damit er für die ins Auge gefasste Mitarbeit in der väterlichen Firma gut vorbereitet war.

 

Die recht günstige Entwicklung im Hause Kurt wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Herbst 1939 zutiefst betroffen. Am Vormittag des ersten September hörte die Familie die berüchtigt gewordene Rede Hitlers mit einem zur Verfügung stehenden recht leistungsfähigem Rundfunkgerät. Eine der ersten Folgen war es, dass der ältere Sohn alsbald zur Wehrmacht eingezogen wurde, so dass die tägliche Sorge um dessen Schicksal die Familie nicht mehr verließ. Vater Kurt reichten die offiziellen deutschen Informationen nicht ganz aus, und er konnte seinen Wissensdurst nicht so ganz beherrschen und wurde zu einem fast regelmäßigen Hörer von Radio Beromünster. Dies war sicherlich nicht im üblichen Sinne ein Feindsender, aber den Regeln des Regimes entsprach dieses Verhalten nicht. Noch in der Vorkriegszeit und in den ersten Jahren der militärischen Auseinandersetzung durchlief Alfred die Klassen der höheren Schule. Auch ein Mitglied der Hitlerschen Jugendorganisation musste er nach den gesetzlichen Bestimmungen sein.

 

Die Familie Kurt wurde von dem Kriegsgeschehen schwer getroffen. Den Vater machte man zum Luftschutzwart, eine Maßnahme, die angesichts der zunehmenden alliierten Luftmacht kaum Erfolge bringen konnte. Den Bruder hatte man ja schon länger zum Militär einberufen, wo er zum Leutnant und Kompanieführer aufstieg. Gefallen ist er im Sommer 1944, als der mittlere Frontabschnitt der Deutschen zusammenbrach. Insbesondere die Mutter hat den Tod ihres älteren Sohnes nicht verwinden können. Zu Anfang des Jahres 1944 verpflichtete man Alfred zum Luftwaffenhelfer. Als Schüler und nebenbei, aber doch hauptsächlich als Soldaten, sollten die Angehörigen des Schuljahrganges 1928 den Mangel an ausgebildetem Bedienungspersonal an den Luftabwehrgeschützen ersetzen. Den Alfred stellte man an das Funkmessgerät, an dem er Daten ablesen musste, welche die Position der feindlichen Flugzeuge angaben. Eingesetzt wurde er bei den Batterien, die auf der Rosenhöhe in Offenbach und in Sulzbach im Westen von Frankfurt stationiert waren. Aber auch diese kaum dem Kindesalter entwachsenen Soldaten hatten auf den Kriegsverlauf keinen Einfluss. Lediglich ein Mindestmaß an Schulunterricht wurde den Flakhelfern noch geboten. Im Frühjahr 1945 wurde Alfred durch eine Art Ersatzabitur nach einer Prüfung der Reifevermerk verliehen. Dieses Zeugnis sollte zu friedlicheren Zeiten den Zugang zur Universität öffnen. Das notdürftige Examen wurde in der Frühe um 7 Uhr im Schulgebäude durchgeführt, da man bei den ständig gewordenen Fliegeralarmen über keine brauchbaren Zeiten mehr verfügte. Doch der Reifevermerk erwies sich als Muster ohne Wert. Nach dem Zusammenbruch wurde er von den Schulbehörden nicht mehr als Zugangsberechtigung zum Studium anerkannt Den Einmarsch der US-Truppen im März 1945 erlebte Alfred als Zivilist in Offenbach. Vom Dienst an den Flakgeschützen war er befreit und erwartete seine Einberufung zur Wehrmacht. Doch dazu kam es dank des schnellen Einmarsches der Amerikaner nicht mehr. Lästig war es für die Familie, dass sie ihre unbeschädigt gebliebene Wohnung für Einheiten der US-Armee zur Verfügung stellen musste. Doch das ging relativ rasch vorüber. Unternehmen musste Alfred nunmehr einen zweiten Anlauf zur Ablegung der Reifeprüfung. Für die zahlreichen jungen Leute, die ihre Ausbildung wegen militärischer Verwendungen hatten unterbrechen müssen, richtete man Sonderlehrgänge im alten Gebäude der heutigen Leibniz-Schule ein. In einem dieser Kurse legte Alfred 1947 zum zweiten Male die Reifeprüfung ab. Diese Bescheinigung hatte mehr Wert als die bedeutungslos gewordene zuerst erworbene. Er begann ohne Aufschub das Studium der Geschichte und der Anglistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Der Weg von der elterlichen Wohnung hin zur Universität war aber noch mit manchem Steinbrocken gepflastert. Durch die Kriegsschäden, insbesondere durch die Brückensprengungen bedingt, gestaltete sich der Weg zum Studienort außerordentlich schwierig. In den Semesterferien verlangte man von den jungen Leuten die Mitarbeit bei der Beseitigung von Trümmern auf dem Gelände der Hochschule. Trotz aller Widrigkeiten konnte Alfred im Frühjahr 1951 sein Studium zunächst mit dem Ersten Staatsexamen für die Fächer Geschichte und Englisch für das Lehramt an Höheren Schulen abschließen.

 

Folgerichtig führte der Weg Alfreds in das Studienseminar zur pädagogischen Ausbildung als Lehrkraft für Höhere Schulen. Dieses Stadium der Ausbildung unterbrach er für rund neun Monate, in denen er in den USA weilte, wo er das dortige Schulwesen kennen lernte. Nach seiner Rückkehr schloss er die Ausbildung ab mit dem Assessorenexamen, das er am Studienseminar Darmstadt ablegte. Seine erste Stelle als voll einsatzfähige Lehrkraft erhielt er im Herbst 1953 an der Höheren Mädchenschule, an der Studienanstalt, wie man sie nannte, in Offenbach an der Geleitsstraße. Hier war ihm Gelegenheit gegeben, sein pädagogisches Geschick zu beweisen und sich weiter zu entwickeln.

 

Das Interesse des jungen Assessors blieb aber nicht allein auf die beruflichen Anforderungen beschränkt. Seine schon in früher Jugendzeit geweckte Aufmerksamkeit für die Geschichte setzte sich fort. Mit großem Eifer studierte er die etwa seit dem Dreißigjährigen Krieg erhaltenen Kirchenbücher der Pfarrei St. Nikolaus in Offenbach-Bieber. Daneben behielt er Kontakt mit dem Historischen Seminar der Frankfurter Universität, wo ihm weitere Anregungen für historische Studien geboten wurden. Das Ergebnis war eine Dissertation über die Straßen und Wege im Rhein-Main-Gebiet zu einer früheren Zeit, so dass er im Jahre 1957 zum Doktor der Philosophie (Dr. phil,) promoviert wurde. Seine Doktorväter waren die Professoren Dr. Kirn, der Frankfurter Ordinarius für mittelalterliche und Professor Dr. Vossler, der Ordinarius für Neuere Geschichte. Seine Bemühungen um die Geschichte Biebers dokumentierte er 1963 mit einer Vorlage zur Geschichte der Gemeinde, welche etwa seit dem Jahre 1911 bei Fachkreisen keine Beachtung mehr gefunden hatte. Damit schien der junge Doktor bestens vorbereitet für eine akademische Laufbahn. Er vollzog den Schritt in die universitäre Karriere und arbeitete als Dozent am Seminar für Geschichte und Sozialkunde an der Universität in Frankfurt. Dort hatte er es in den Jahren 1963 bis 1967 mit der Ausbildung junger Lehrer zu tun. Unter anderem besuchte er diese bei ihren Unterrichtsversuchen im südhessischen Raum. Seine Aufgabe war es, diesen Ratschläge für ihre pädagogische und fachliche Entwicklung zu geben.

Aber der Dozent und der (Ober) Studienrat ließ es nicht bei seinen beruflichen Aktivitäten bewenden. Sein Eifer drängte ihn zur Wirksamkeit in die Öffentlichkeit. Dabei kam ihm sehr zustatten, dass er mit Maria Kuhn (so der Mädchenname) eine Frau geheiratet hatte, die es ebenfalls dazu drängte, über den häuslichen Rahmen hinaus im politisch-gesellschaftlichen Bereich tätig zu werden. Sie hatte Volks- und Betriebswirtschaft studiert und den Titel Diplom-Kauffrau erworben. Zeitweise hatte sie ein eigenes Geschäft geführt. Ihre große Zuneigung galt der Politik, in der sie sich für die CDU engagierte. Im Jahre 1966 wurde sie zunächst Stadtverordnete, seit dem Jahre 1977 wirkte sie als ehrenamtliche Stadträtin bis zu ihrem Tod 1992 im Magistrat der Stadt Offenbach. Rührig, wie sie war, wurde sie Mitglied der Verbandsversammlung des Umlandes, des Aufsichtsrates der Stadtwerke, der Werkskommission der Stadtwerke und der Theaterkommission. Als zweite Vorsitzende wirkte sie im Vorstand der Vereinigung der Offenbacher Fluglärmgegner. Es steht fest, dass sich Dr. Kurt mit seiner Gattin über die ihr anvertrauten Aufgaben austauschte, sie die aktuellen Themen diskutierten, so dass er über das kommunalpolitische Geschehen bestens informiert war. Er selbst legte in seiner Freizeit nicht die Hände in den Schoß, sondern handelte ebenfalls im politischen und vorpolitischen Raum. In den Jahren 1957 und 1958 war er Vorsitzender des Rings der politischen Jugend, er wirkte mit im Wahlvorstand der Stadt Offenbach, außerdem war er Mitglied des Schöffen-Wahlausschusses beim Amtsgericht Offenbach. Bei der im Hause Kurt angesiedelten Ämterfülle konnte es keinem der Partner an verantwortungsvollen Aufgaben fehlen. In seinen besten Mannesjahren war Dr. Kurt zweifellos mit recht unterschiedlichen Funktionen gut ausgelastet.

 

Bei all diesen Verpflichtungen kam die Beschäftigung mit der Heimatgeschichte nicht zu kurz. Mehr formlos als den Regularien eines Vereins entsprechend wurde Dr. Kurt von seinem früheren Lehrer und Förderer Dr. Grünewald das Amt des Vorsitzenden des Offenbacher Geschichtsvereins übertragen. Er sollte es 36 Jahre innehaben. Damit verbunden war die Funktion des Schriftleiters. Im jährlichen Rhythmus sorgte Dr. Kurt mit großer Genauigkeit und Sorgfalt für die Edition von Schriften im Rahmen der Reihe der Offenbacher Geschichtsblätter. Neu belebte er die Serie der Veröffentlichungen von „Alt-Offenbach“, die einst in den 20er Jahren entstanden, aber durch die Ungunst der Verhältnisse in den 30er Jahren untergegangen war.

 

Bei all der Konzentration der bei dem Ehepaar Kurt (die Ehe blieb kinderlos) angesiedelten Aufgaben und Verpflichtungen erwies sich doch die Tätigkeit an der Frankfurter Universität als eine etwas abseits liegende Aktivität. So verlegte Dr. Kurt seinen beruflichen Schwerpunkt wieder in den Offenbacher Raum. In den Jahren 1967 bis 1973 wirkte er als Lehrkraft am Friedrich-Ebert-Gymnasium in Mühlheim am Main, wo ihm neben der unterrichtlichen Tätigkeit Aufgaben in der Schulleitung zufielen. Damit war Dr. Kurt endgültig im Offenbacher Gebiet angekommen, wo er weiterhin in Bieber lebte, seinem Ausgangspunkt mit den besten Verbindungen in das damals noch als Kreisstadt fungierende Offenbach und mit beruflichen Verpflichtungen in den Kreis hinein, in dem sein hoch geschätztes Bieber bis zum Jahre der Eingemeindung 1938 ein nicht zu unterschätzendes Glied darstellte. Besonders herausgefordert fühlte sich Dr. Kurt im Jahre 1977, als die Stadt Offenbach auf ihre erste urkundliche Erwähnung vor 1000 Jahren zurückblicken konnte. Er sorgte dafür, dass in jenem Jahr zwei Bände der Offenbacher Geschichtsblätter in bibliographisch vollendet gestalteter Form der Öffentlichkeit vorgelegt werden konnten. In einem eigenen Beitrag beschrieb er die Siedlungsentwicklung Offenbachs in dem zurückliegenden Millennium. Rund ein Jahrzehnt später vollendete er in registenhafter Form eine Darstellung der Offenbacher Geschichte von ihren ersten bekannten Anfängen bis zum Jahre 1900. Der Band ermöglicht es den Interessierten, sich ohne großes Nachschlagen über die bedeutenden Einzelereignisse aus der Offenbacher Vergangenheit zu informieren.

 

Das Friedrich-Ebert-Gymnasium in Mühlheim sollte nicht die berufliche Endstation des Dr. Kurt werden. Er verfügte nunmehr über ausreichende pädagogische Erfahrungen und war vertraut mit den Problemen der Heranbildung junger Lehrer. Ebenso hatte er schon mitgearbeitet bei der Verwaltung einer Schule. So war er bestens vorbereitet für die Übernahme einer Schulleitung. 1972 übertrug man ihm die Leitung der Einhard-Schule in Seligenstadt, eine geradezu übermenschliche Aufgabe. Bei der ihm anvertrauten Institution handelte es sich um eine schulformbezogene Gesamtschule. Unter dem Dach eines Direktorats arbeiteten nicht weniger als vier Schularten. Etwa 2000 Schüler besuchten die diversen Zweige, in denen sie die ihnen gemäße Form der Ausbildung finden sollten. Rund 100 Lehrer arbeiteten unter der pädagogischen Anleitung von Dr. Kurt. Mit den Referendaren und anderen nicht hauptamtlich angestellten Kräften waren rund 140 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an der Schule im Mainstädtchen vereint. Allein der Verwaltungsaufwand war geeignet, den Leiter einer solchen Institution zu erdrücken. Aber Dr. Kurt wusste, dass er eine primär erzieherische Funktion zu erfüllen hatte. Außerdem war es dem Heimatforscher ein besonderes Anliegen, in Seligenstadt mit seinen religiösen und kulturellen Traditionen, wie sie sich schon am Namen der Schule zeigten, zu deren Erhalt und zu deren Fortwirken sich zu betätigen. Dr. Kurt war im weiteren Sinne dazu berufen, Träger und Förderer die im Kreis Offenbach lebendigen, aus der Vergangenheit erwachsenen Kräfte zu hegen und zu pflegen.

 

Mochte auch die Leitung einer der bedeutendsten Schulen im Ostkreis hohe Anforderungen stellen, Dr. Kurt behielt seinen Kopf frei für weitere Aufgaben, die weit über den schulischen Sektor hinausreichten. Auf seine Initiative hin gründete man in Seligenstadt im Jahre 1977 einen Lions Club. Wie bei diesen Vereinigungen üblich stand das humanitäre Anliegen im Vordergrund, die Hilfe für Menschen, die in Nöte und Schwierigkeiten geraten waren. Daneben spielte die gegenseitige Förderung der Clubmitglieder eine bedeutende Rolle bei den Aktivitäten des jungen Kreises von in der Regel prominenten Bürgern in der Einhardstadt. Nach den Gepflogenheiten hatte Dr. Kurt als erster Vorsitzender der Vereinigung anlässlich der Gründung einen Festvortrag für seine Freunde zu übernehmen. Er wählte dafür das Thema „Zwischen Rad und Adler“. Die Themenstellung entsprach völlig seinen Neigungen und Vorlieben. Einerseits konnte er mehr die regionale Verbundenheit mit dem Mainzer Bistum und seinen Bischöfen in der Domstadt darstellen, andererseits war es ihm möglich, die weitere Einbindung Seligenstadts in den Rahmen des alten Reiches darzustellen. So gelang ihm die Demonstration des Spannungsverhältnisses zwischen dem Föderalismus und dem zentralen Gedanken der deutschen Einheit, der für viele Phasen der deutschen Geschichte und gerade für den süddeutschen Raum konstitutiv ist.

 

Dr. Kurt verblieb Schulleiter in Seligenstadt bis zum Jahre 1987; er hatte rund 15 Jahre die Last der Verantwortung für eine kaum zu überblickende Anstalt zu tragen. Die Pensionierung bedeutete für den ausgeschiedenen Oberstudiendirektor aber keineswegs einen finalen Ruhestand, in dem er sich der Passivität ergeben hätte. Er hatte sich in all den Jahren ein umfangreiches historisches Wissen erworben, das gleichsam auf Publikationen hin drängte. Hatte er sich schon in den Jahren vor dem Ausscheiden aus dem Schuldienst durch Beiträge der verschiedensten Art in den Fachorganen hervorgetan, so gelangen ihm in den 90er Jahren zwei größere Veröffent-lichungen. Weithin war das Verlangen erwacht, den Ereignissen in der Zeit der NS-Herrschaft näher nachzugehen, Man wollte wissen, wer an der Entstehung des Übels mitgewirkt hatte, wer sich an der Ausübung der Zwangsherrschaft beteiligt und welche Lasten die Menschen durch den mutwillig verursachten Krieg zu tragen hatten. Auch galt es, den Opfern der braunen Diktatur gerecht zu werden und die Erinnerung an die Verfolgten und Getöteten zu wahren. Zusammen mit dem Verfasser dieser Zeilen konnte Dr. Kurt im Jahre 1991 den Band „Der Kreis Offenbach und das Dritte Reich“ vorlegen. Unterstützt durch die Behörden des Kreises durch Landrat und Landratsamt, fand das Buch eine rasche Verbreitung und war in kürzester Zeit vergriffen und zu einem Standardwerk in den Schulen des Kreises geworden.

 

Ein anderes Werk aus der Feder von Dr. Kurt kann als die Summe seiner historischen Studien gesehen werden. Sein über Jahrzehnte angesammeltes Wissen legte er nieder in dem vom Bintz-Verlag 1998 herausgebrachten Buch „Stadt und Kreis Offenbach in der Geschichte“. Sein Verfasser erwies sich in ihm als ein hervorragender Kenner der Lebensverhältnisse der Menschen am Main, im Rodgau und in der Dreieich, wie es im Untertitel heißt. In der Veröffentlichung wird das tiefe Mitgefühl erkennbar, aus dem heraus der Verfasser die Freuden und Leiden der Menschen im südlichen Untermaingebiet beschreibt. Der Band erinnert an die heute nicht mehr bestehende Verbundenheit der ehemaligen Kreisstadt mit der Vielzahl der sie umgebenden Gemeinden. Nach der Pensionierung von Dr. Kurt wandte er sich vermehrt seiner Heimatgemeinde Bieber zu, die sich mittlerweile zu einer ansehnlichen Vorstadt von Offenbach entwickelt hatte. Dazu mag auch beigetragen haben, dass er den Vorsitz im Offenbacher Denkmalbeirat 1991 niederlegte. Bieber wurde mehr denn je der Brennpunkt seines Interesses und damit auch das Spannungsverhältnis zur Stadt Offenbach und ihrer Verwaltung. Frei von allen Konflikten war dieses Verhältnis nie gewesen Dr. Kurt war zu einem wagemutigen Spagat mehr gezwungen, als dass er es gewollt hätte. Ihm musste klar sein, dass die Eingemeindung spätestens seit dem Jahre 1950 irreversibel geworden war. Ihm fehlte es nie an Beziehungen über den Bieberer Berg hinweg. Wie schon erwähnt, hatte er wie damals üblich in Offenbach die höhere Schule besucht und damit die Grundlage für einen weiten Bekanntenkreis gelegt. In Offenbach war er zunächst als Lehrkraft tätig; bei einer vornehmlich aus Offenbach kommenden Schülerschaft war er hoch angesehen. Mit seinen Ehemaligen hielt er, so lange er konnte, Kontakt. Er war über Jahrzehnte Vorsitzender eines Offenbacher Vereins. Er war zu einem der besten Kenner der Offenbacher Geschichte geworden. Durch seine Frau, die über Jahre Mitglied des höchsten Verwaltungsgremiums der Stadt war, hatte er mit aller Wahrscheinlichkeit beste Kenntnisse von den städtischen Entwicklungen und Problembereichen. Auf der anderen Seite wollte die Narbe der Eingemeindung nie vollständig abheilen. Ihn wurmte der erbärmliche Eingemeindungsvertrag aus dem Jahre 1938; immer wieder erfüllte es ihn mit Bitterkeit, wenn selbst die dürftigen Bestimmungen des Vertrages nicht eingehalten wurden. Zu einer freundlicheren Haltung gegenüber der Kernstadt trug es sicher nicht bei, dass deren Ruf vor allem durch die ewige Schuldenmacherei in erheblichem Maße gelitten hatte. So machte er in seinen späteren Jahren von seinen Aversionen keinen Hehl und setzte sich unverdrossen für Verbesserungen der Außen-darstellung Biebers ein, mochten diese auch nur kosmetischer Art sein. Ein glänzendes Arbeitsfeld für seine stark auf Bieber bezogenen Ambitionen fand Dr. Kurt in den Jahren 1990 und 1991, als man im Vorort auf die erste Erwähnung Biebers im Lorcher Kodex vor 1200 Jahren zurückblicken konnte. Zusammen mit Gleichgesinnten entschloss man sich, diese Eintragung als offizielles Entstehungsdatum in feierlicher und festlicher Form zu begehen. Zu diesem Zweck gründete man den Bieberer Heimatverein, der mit Dr. Kurt als spiritus rector ein großes Jubiläumsfest mit Festzug und sonstigem Gepränge veranstaltete. Nach den festlichen Tagen setzte der Verein seine Arbeit fort, indem er sich vor allem dem Gedanken der Heimatverbundenheit widmete. Seine editorischen Fähigkeiten stellte Dr. Kurt erneut unter Beweis, da er dafür sorgte, dass der Heimatverein alljährlich eine Publikation mit dem Titel „Blick auf Bieber“ vorlegte. Dr. Kurt brachte seine Erfahrungen als Schriftleiter ein und steuerte zahlreiche Aufsätze und kürzere Darstellungen bei, welche das Interesse an der Broschüre steigerten. Seit dem Beginn der Reihe sind nahezu 20 Hefte in der Zwischenzeit erschienen.

 

Es war ein schwerer Schlag für Dr. Kurt, als er 1992 seine Gattin durch einen plötzlichen Tod verlor. Er fühlte sich stark auf sich selbst zurückgeworfen, seine Verbindungen mit dem politischen Leben in Stadt und Kreis Offenbach erfuhren doch erhebliche Einschränkungen. Der große Schwung, der ihn über Jahre getragen hatte, verebbte allmählich. Sein Interesse an den Bieberer Angelegenheiten blieb indessen erhalten. Seine Aufsätze und Beiträge zum „Blick auf Bieber“ setzte er fort. Er lockerte seine Verbindungen zum Offenbacher Geschichtsverein, dessen Vorsitz er aufgab. 1996 ging er eine zweite Ehe ein. Es trafen ihn Krankheiten, die ihn zum weiteren Rückzug in die Privatsphäre zwangen. Obwohl er jahrelang seine Gebrechen mit großer Geduld ertragen hatte, ereilte ihn doch ein plötzlicher Tod. Er verstarb mitten in der Bieberer Gemarkung, die er wie kein Zweiter kannte. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Bieberer Friedhof neben seinen verstorbenen Eltern und der ihm vorausgegangenen Gattin.

 

Dr. Kurt war ein Mensch, dem in einem recht langen Leben vieles gelungen war. Nach den Turbulenzen der Kriegsjahre durfte er Jahrzehnte erleben, in denen sich Deutschland und selbstver-ständlich auch seine Heimat eines wachsenden Wohlstandes erfreuten. Beruflich war ihm ein großer Aufstieg vergönnt, der ihn an die Spitze einer bedeutenden pädagogischen Institution führte. Als Heimat- und Geschichtsforscher erlangte er hohes Ansehen, das ihm eine weite Leserschaft bescherte. Es mangelte ihm nicht an Geselligkeit, so dass er zahlreiche Freunde und Bekannte zählen konnte. Freilich hatte auch er seine Ecken und Kanten. Groß war seine Akribie, die ein Teil seines Erfolges war. Seine Maßstäbe legte er auch an die Ausarbeitungen anderer an, die nicht immer seine Strenge und Genauigkeit verstanden. Im Interesse der Sache hielt er die bis in kleine Details reichende Genauigkeit für unverzichtbar. Er trug sein Herz nicht auf seiner Zunge, und mancher hätte sich von seiner Seite eine größere Offenheit gewünscht. Sicher war er kein Mensch, der sich durch seine Ellenbogen auszeichnete, aber ein gewisses Maß an Zielstrebigkeit und Durchsetzungskraft war ihm eigen. Es gelangt eben nicht jeder tüchtige Studienrat in die Position des Leiters einer Mammutanstalt.

 

In dem ihm vorgegebenen Rahmen leistete Dr. Kurt gute Arbeit, die weit über seinen Tod hinaus wirken wird. In dem zur Vorstadt gewordenen Bieber vollendete er sein Leben, das vor mehr als 80 Jahren in einer selbständigen Gemeinde begonnen hatte. Die Zahl der Nachfolger für den Kenner der Heimatgeschichte und den verständnisvollen Darsteller für die Besonderheiten Menschen in der näheren Umgebung ist gering.

 

 

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